von Volker Dobers
Der hannoverische Baurat und Konsistorialbaumeister Conrad Wilhelm Hase (1818 – 1902) ist für die umfassende Neugestaltung der Lüchower St.-Johannis-Kirche im Jahre 1866 verantwortlich. Dabei ist er vermutlich nie im Lüchow gewesen. Lediglich über einen Freund aus Studienzeiten, den Lüchower August Tacke, hat er mittelbar eine Beziehung zur Kleinstadt im Wendland. Selbst die Bitte des Lüchower Kirchenvorstands vom 2. April 1852, die St.-Johannis-Kirche persönlich zu besichtigen, bescheidet Hase am 8. Mai desselben Jahres abschlägig. Vermutlich wird er einen seiner Schüler nach Lüchow geschickt haben. Angesichts von 60 Kirchenneu- und -umbauten und noch einmal fast so viele Restaurierungen bestehender Kirchen im Laufe seines Lebens hat Hase die Lüchower Bausache eher beiläufig betrieben. In der Werkeliste seiner Autobiographie erwähnt der Planer das Lüchower Projekt nicht.
Am 13. März 1853 zeichnet Hase zwei Entwurfsvarianten für eine grundlegende Erneuerung der Kirche. Denn die schien dringend geboten: Zwei Bauberichte aus dem Jahre 1852 sprechen von einem »... schon lange in tiefem Verfall liegenden Innern der Kirche ...« in Lüchow. Nach Hases Vorstellungen sind Fensterlaibungen und Portale neugotisch auszuführen. Gleiches gilt für die Gestaltung von Altar, Kanzel und Schalldeckel. Erst mehr als ein Jahrzehnt später, am 20. Juli 1866, gehen Hases Entwurfszeichnungen der Ausstattungsstücke von Hannover nach Lüchow ab. Wenige Monate später sind sie durch den hannoverischen Bildhauer Carl Dopmeyer (1825 – 1899) fertiggestellt.
Vorausgegangen war seit Mitte der 50er Jahre eine lange Auseinandersetzung um den Charakter der Neugestaltung der in desolatem Zustand befindlichen Lüchower Kirche. Das kirchliche Bauamt in Hannover, das Konsistorialbauamt, bis 1862 von Ludwig Hellner (1791 – 1862) geleitet, führte einen Streit mit Hase über die künftig notwenige Anzahl der Sitzplätze und den Umfang der Neugestaltung.
Am 4. Oktober 1853 hatte Hellner im Zusammenhang mit einem ohnehin anstehenden Besuch im nahegelegenen Gartow die Lüchower Kirche besichtigt und daraufhin ein Gutachten gefertigt, in dem er auch auf Hases Entwurfsvarianten vom 13. März eingeht. Hase versucht daraufhin mit Schreiben vom 18. Juli 1854, Hellners Kritikpunkte an seinen Plänen zu entkräften. Die Mitglieder des Kirchenvorstands sind sich angesichts des Streits der Sachverständigen nicht über den in der Sache einzuschlagenden Weg einig und schieben die Angelegenheit jahrelang vor sich hin. Erst Ende 1859 greift das Gremium die Bausache unter Leitung des neuen Propstes Hermann Seebold wieder auf. Nach dem Tode Hellners wird 1863 Hase dessen Nachfolger als Konsistorialbaumeister.
Hinter der Auseinandersetzung der Architekten Hellner und Hase um die Gestaltung der St.-Johannis-Kirche in Lüchow steht ein architekturhistorischer, kunstgeschichtlicher wie liturgiegeschichtlicher Richtungsstreit, der mit den Polen Nützlichkeit gegen Schönheit nur unzutreffend und verkürzt beschrieben ist.
Hellner, der z.B. für die Kirchen in Bergen und Bülitz (ganz in der Nähe von Lüchow) verantwortlich zeichnet, weiß sich dem klar gegliederten, hellen, symmetrischen Stil klassischer Architektur im Sinne griechisch-römischer Antike verbunden. So wird bei ihm wie selbstverständlich durch große, offene Fenster hereingelassen, was außerhalb der Kirchenmauern geschieht. Welt und Kirche nehmen einander wahr. Die Gemeinde schottet sich nicht in einer Sonderwelt ab: Zeitgemäß, wirklichkeitsnah, verständlich sollte darum der Gottesdienst in Hellners Kirchen sein. Die Predigt als klare und nüchterne Auslegung des biblischen Wortes ist zentral. Nähe, Symmetrie, gutes Licht und bequeme Sitze haben dem Schwerpunkt der Predigt zu dienen. Kanzel und Altar finden sich dicht an der Gemeinde, oft als Kanzelaltar. Einen gesonderten Chorraum oder eine Apsis gibt es selten.
Hase dagegen, geprägt durch Einflüsse von Romantik und Erweckungsbewegung sowieköniglich-hannoverischen Nationalismus (in Abgrenzung zu Preußen) und einer Vorliebe zu Bauformen des Spätmittelalters, entwickelt eine eigene – von Gegnern pauschal »katholisch« genannte – Formensprache: hohe, schmale Spitzbogenfenster, Dachlandschaften mit vielen Türmchen, kleinteilige, »gefühlsbetonte«, »schmückende« Gestaltungen. Diese eigenwillige, an die Neugotik angelehnte Bauweise nannten seine Schüler »Hasik«. Conrad Wilhelm Hase will stimmungsvolle, charakteristisch »christliche« Kirchen, keine Lehrsäle mit »abgeschmackter Nüchternheit«, die ebensogut auch als Tanzsaal dienen könnten. Die Kanzel wandert bei ihm aus dem optischen Mittelpunkt an die Seite. Er unterscheidet damit Versammlungs-/Predigtort und Feier-/Abendmahlsort. Bei ihm ist der Pastor nicht mehr primär Lehrer, sondern Priester. Ein zeitgemäßer, wirklichkeitsnaher, verständlicher Gottesdienst steht bei ihm weniger im Vordergrund. Auch konfessionelle Unterschiede spielen eine untergeordnete Rolle. Hase will eine antimodernistische Gegenwelt als Heimat bieten: ein verinnerlichter, gefühlsbetonter Gottesdienst. Das Mysteriöse und Geheimnisvolle des Glaubens soll wiedergewonnen, Kult und Ritual aufgewertet werden. Die belehrende »Katheder«-Kanzel verliert an Bedeutung. Das Zentrum des Gottesdienstes liegt für Hase im Chorraum mit dem Altar, sozusagen außerhalb der Gemeinde, unverfügbar im »Jenseits«. Der Altar mit dem Chorraum wird als ausgesonderter, heiliger Bereich Zentrum des Gottesdienstes. Dahinter steckt sowohl der Wille, dem Göttlichen, dem Heiligen im Gottesdienst mehr »Raum« zu geben als auch das Wissen um die Unverfügbarkeit des Glaubens.
Im Archiv der St.-Johannis-Gemeinde finden sich heute noch die handgefertigten und kolorierten Entwurfszeichnungen.
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