Gedanken eines Nachbarn über den Westgiebel der Kirche

 

Wenn Steine sprechen……

von Hermann Ripke

Vor dem Fenster meines Hauses ragt der massive und beeindruckende Westgiebel der St. Johanneskirche empor. Je nachdem, aus welchem Winkel ich blicke, kann ich entweder nur einzelne Abschnitte der Westfassade sehen oder den gesamten Giebel. Der bautechnisch kraftvoll ausgeführte untere Teil ist in Säulen und Nischen unterteilt. Er trägt den oberen Bauteil mit seinen engen, aufragenden Bögen und dem gestuften Giebel. Dort wird das Jahr 1691 buchstäblich sichtbar, und zwar in Form geschmiedeter Zahlzeichen, die vor langer Zeit von einem Lüchower Schmied handwerklich gestaltet wurden, der  Elle, Amboss und Hammer benutzte. Der Giebel wird von der Wetterfahne gekrönt. Sie ist wahrscheinlich auch das Werk eines ortsansässigen Schmiedes.

Während der obere Teil des Giebels einen einheitlichen Eindruck bietet, zeigt die darunter befindliche Westmauer viele verschiedene Facetten. Ein Teil der Mauer wurde aus Feldsteinen gebaut. Hier befindet sich mit Sicherheit der älteste Teil der Wand. Auf einer Seite wurde die Mauer durch einen Strebepfeiler begrenzt. Auf der anderen Seite wurden Mauerteile aus einer Konstruktion aus Feldsteinen erbaut, die zu einem späteren Zeitpunkt  verändert wurde. Diese uneinheitlichen Konstruktionselemente werden durch ein in der Mitte der Westwand befindliches Fenster aufgebrochen.

Andere Wandteile bergen ebenfalls Hinweise auf die vielen Veränderungen, die in vergangenen Jahrhunderten an der  Westwand vorgenommen wurden. Spuren ehemaliger Fensteröffnungen sind immer noch sichtbar. Einige wurden vollkommen zugemauert und sind zu Teilen der Außenwand geworden. An anderen Stellen sind nur die Fensternischen mit Ziegeln vermauert, so dass die Fensteröffnungen und die in Stein eingefassten abgerundeten Oberlichter klar sichtbar bleiben. Der Umriss der Tür, die einmal der westliche Eingang war, ist deutlich sichtbar.

Am meisten fällt die Einwirkung der Jahrhunderte auf das Mauerwerk selbst ins Auge. Unterhalb der Feldsteine befinden sich Ziegelsteine, die so angeordnet sind wie es in Klöstern üblich ist. Diese Steine zeigen immer noch viele Spuren ihres Herstellungsprozesses: Jeder Stein war mit der Hand in die Hohlform gelegt worden und wurde nach dem Trocknen im Feuer gebrannt. Daher sieht kein Ziegelstein genau wie der andere aus. Der Farbton des Ziegels ist ein Ergebnis seines Herkunftsortes in der Tongrube und auch des Brennprozesses im Ofen.

Da es keine elektronische Temperaturkontrolle gab, hing die Qualität des Ziegelbrennens vor allem davon ab, wie viel Erfahrung  man bei der Bestimmung der richtigen Temperatur hatte, und da blieb auch Raum für den Zufall. Daher weisen fast alle Ziegel verschiedene Rottöne auf. Diese Unterschiedlichkeit verleiht ihnen eine einzigartige und  lebenssprühende Beschaffenheit.

In späteren Jahren wurden etwas andere Ziegelformen verwendet. Zunächst überwog die Anzahl der handgefertigten Steine, doch in jüngerer Zeit wurden bei Reparaturen maschinell hergestellte Ziegelsteine verwendet. Sie waren von einheitlicher Färbung und Größe, aber ihre Struktur war nicht so interessant.

Der Westgiebel bietet mir eine immer neue und sich verändernde Ansicht. Ich denke oft an die Leute, die ihn erbaut haben. Manchmal hege ich den Wunsch, mehr über sie zu wissen.

Rund um St. Johannis
Rund um St. Johannis
The north portal as sketched in 1990 by Dr.-Ing. Dieter Langmaack, architect
The north portal as sketched in 1990 by Dr.-Ing. Dieter Langmaack, architect